Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (2024)

Die legendäre Modeschöpferin war eine Meisterin Inszenierung. Sie entwickelte Kleider vor allem für sich selbst – und doch für die Welt. Jetzt wird sie gewürdigt.

Marion Löhndorf, London

6 min

Drucken

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (1)

Der Fall ist kompliziert. Die legendäre Modeschöpferin Coco Chanel war ein Geschäfts-Genie, das eines der erfolgreichsten Modeunternehmen des 20.Jahrhunderts gründete. Sie war eine Visionärin, deren Stil Frauen von den Zwängen einschränkender Moden befreite. Und sie war eine Mittelpunktsfigur, die Klassen- und Geschlechterbarrieren mit staunenswertem Geschick überwand. Zu ungetrübter Heldinnenverehrung gibt Coco Chanel gleichwohl keinen Anlass.

Während des Zweiten Weltkriegs verstrickte sich diese Frau in dubiose Händel mit den Nationalsozialisten, begann eine Liaison mit einem deutschen Spion und wollte sich die antisemitischen Gesetze der Zeit zunutze machen, um ihren jüdischen Geschäftspartner zu entmachten. Das Victoria and Albert Museum in London würdigt nun die Leistungen, ohne die Verfehlungen auszublenden. Damit kommt die angesehene Institution bei den Kritikern gut an. Ganz nebenbei zeigen die Reaktionen auf die Schau auch, wie selektiv Cancel-Kultur sein kann. In anderen Fällen geht diese mit rabiater Schwarz-Weiss-Einordnung vor.

Der weitläufig angelegte, hochelegante Museumsparcours ist ganz im Stil der Chanel-Boutiquen ausgestattet – als eine Art monumentaler Chanel-Shop, in dem allerdings nichts zum Verkauf steht. Ausstellungen über Marken und Labels der Modewelt ist immer ein starkes Werbe-Element eigen: In diesen Fällen heiligen Kulturinstitutionen Produkte von Unternehmen und schreiben ihnen transzendente Qualitäten zu, die weit über deren Gebrauchswert hinausgehen. Das ist auch jetzt nicht anders.

Eine Vitrine nach der anderen zeigt Abendkleider, erlesene Kostüme mit kleinen Bordüren, Taschen, Schuhe, massive Schmuckstücke und Parfumflaschen, die sich seit ihrem Entstehen in den zwanziger Jahren kaum verändert haben. Überhaupt wirken all diese Kleidungsstücke auf der Stelle tragbar, modern, unsentimental.

Mit ihrer Betonung von sachlichen Schnitten, lockerem Sitz und der Verwendung von bisher der Männermode vorbehaltenen robusten Stoffen wie Tweed zogen Chanels Kleider einen neuen, selbstbewussten Frauentyp an. Mit ihrer Mode, die einen aktiven, unabhängigen Lebensstil ermöglichte, nahm Coco Chanel die Bedürfnisse moderner Frauen vorweg: Denn diese waren auch ihre eigenen.

Die Korsette und einengenden Humpelröcke der vorigen Jahrhundertwende waren Coco Chanel ein Graus, Bewegungsfreiheit war ihr ein prioritäres Bedürfnis, sie selbst schnellte zielbewusst durchs Leben. Alles in dieser Mode dreht sich im Grunde um die Figur Coco Chanel selber. Und so ist es folgerichtig, dass die kleine Stilkunde, die diese Ausstellung betreibt, bei ihrer Person beginnt und endet.

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (4)

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (5)

Chanel: Zweiteiler vom 1964 und Kleid von 1935 (rechts).

Vom Kloster ins Zentrum von Paris

1883 als Gabrielle Chanel in ärmlichste Verhältnisse geboren, verbrachte sie als Halbwaise sechs trostlose Jahre in einem Kloster, wo sie das Schneidern lernte. Die nächste Lebensstation als ausgehaltene Frau auf einem Adelssitz machte sie mit einem üppigen, raffinierten Lebensstil vertraut. Als ihre Liebhaber Boy Capel und Étienne Balsan sie 1910 finanziell beim Aufbau eines Hutgeschäfts unterstützten, glaubten sie, der Freundin ein Spielzeug in die Hand zu geben. Doch die kleine Hutmacherin etablierte sich in weniger als einem Jahrzehnt als anerkannte Modeschöpferin, die imstande war, von 1918 bis 1927 fünf Häuser in der Rue Cambon im Zentrum von Paris zu erwerben.

Später rundete Chanel ihr Luxusimperium durch unverkennbare Accessoires ab, die sie immer an ihrer eigenen Person vorführte. Konventionen missachtend, mischte sie echten mit unechtem Schmuck. Ihre berühmten Parfums, ihre Taschen, deren Metallketten das Herabrutschen an Frauenschultern verhindern sollten, und ihre zweifarbigen Slingback-Pumps waren bald schon Manifeste ihres Ruhms. Den Siegeszug des «kleinen Schwarzen» propagierte sie selber als Trägerin.

Ihr typischer Stil war von hohem Wiedererkennungswert. Coco Chanel entwarf ihre Kleider in erster Linie für sich selbst und webte ihnen Zeichen ihrer eigenen Biografie ein: Die Vorliebe für schlichte, fast strenge Schnitte und für Schwarz und Weiss leitete sie von den Trachten der Nonnen ab, bei denen sie aufgewachsen war. Ihr Stilgefühl soll von den klaren Linien und ausgewogenen Proportionen der romanischen Klosterarchitektur herrühren. Sogar ihr berühmtes Firmenlogo führen Biografinnen auf die Fussbodenmosaike der Abtei Aubazine zurück.

Im Haus Chanel drehte sich alles um «Mademoiselle»: Sie selbst war ihr bestes Modell. Mit der Selbstinszenierung ihrer eigenen Designs setzte sie die bis heute wirksame Personalisierung ihrer Marke in Gang. Das war nicht nur ein weiterer Marketing-Coup. Coco Chanel setzte damit einen Trend. Auf Fotos lehnt oder liegt sie in luxuriösen Kulissen, hingegossen in ihren sachlichen Kostümen, immer mit einer brennenden Zigarette in der Hand. Selbst bei Anproben sprach sie unentwegt, mit einer Stimme, die an raschelndes Laub erinnerte, die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt.

Marie-Hélène Arnaud in einem Tweed-Kleid aus der Herbst/Winter-Kollektion von 1959; Marion Morehouse in einem schwarzen Bolero-Kleid mit Pailletten von 1926.

Flirt mit dem Adel

Wenn man Coco Chanel zum ersten Mal sah, dachte man nicht an ihr Alter, auch ihr Aussehen fiel nicht ins Gewicht, wie ihre Biografin Marie Pawlowna schrieb: «Es war die Festigkeit ihres Kinns, die entschlossene Haltung ihres Halses, die einen beeindruckte. Was einen umwarf, war ihre intensive Vitalität, die inspirierend und ansteckend wirkte.» Marie Pawlowna, eine russische Grossfürstin, lernte Chanel zu Beginn der zwanziger Jahre kennen. Damals war Chanel schon reich und berühmt und hatte die Vorzüge geschickten Mäzenatentums für sich entdeckt.

Sie liess die verarmte Grossfürstin für sich arbeiten und war in der Lage, andere russische Exilanten finanziell grosszügig zu unterstützen, unter ihnen Igor Strawinsky und seine Familie, der Impresario Sergei Diaghilew, für dessen Ballets Russes sie Kostüme entwarf, und Marie Pawlownas Bruder, der Grossfürst Dmitri Pawlowich, der ihr Liebhaber wurde.

Auch andere Adlige stellte Chanel in ihre Dienste – als Schmuckdesigner, Mannequins und für ihre PR. Durch diese Umkehrung der Klassenverhältnisse habe sie sich nicht rächen wollen, behauptete sie später. Die Anstellungen seien reinen Nützlichkeitserwägungen entsprungen. Adel und Grossbourgeoisie machten einen Grossteil ihrer Klientel aus.

Coco Chanel befreundete sich mit Politikern wie Churchill, der seiner Frau begeistert über Chanels Führungsqualitäten schrieb: «Sehr angenehm, eine grossartige und starke Person, die geeignet ist, einen Mann oder ein Empire zu regieren.» Chanel bewegte sich in den höchsten Kreisen des Adels.

Zu ihrer Selbstinszenierung gehörten die Verschleierung der eigenen Herkunft und die Mystifizierung ihrer Kinder- und Jugendjahre: Aus den Nonnen des Klosters, in dem sie aufwuchs, wurden «Tanten», aus der Abtei ein Haus mit dunklen Zimmern. Robert Streitz, der Architekt ihrer Villa La Pausa, gehörte zu den wenigen Eingeweihten. Ihn schickte sie an den Ort ihrer Kindheit, um von der Treppe des mittelalterlichen Klosters Aubazine eine Nachbildung für die klösterlich streng gestaltete Riviera-Villa zu fertigen.

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (8)

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (9)

Das Model Dorothy im Chanel gekleidet, Paris, 1960; Chanel-Kostüme in der Produktion «Le train bleu» von Jean Cocteau und den Ballets Russes, London, 1924.

Während des Zweiten Weltkriegs war Coco Chanel als Spionin für die Deutschen gelistet, aber auch die Résistance notierte sie als Zugehörige, wie die Ausstellung belegt. Chanel nutzte antisemitische Gesetze, um Pierre Wertheimer, den jüdischen Hauptanteilseigner ihres Geschäfts mit Parfums, mit dem sie jahrelang im Streit lag, auszubooten. Doch Wertheimer war ihr einen Schritt voraus und konnte ihren Plan vereiteln. Nach dem Krieg nahmen Chanel und Wertheimer ihre Zusammenarbeit wieder auf. Die Firma Chanel ging später auf Wertheimers Nachkommen über, in deren privater Hand sie sich bis heute befindet.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schloss Chanel ihr Couture-Haus, und das blieb so bis zu ihrem Comeback im Jahr 1954. Die vernichtenden Kritiken ihrer ersten Nachkriegskollektion hielten die Siebzigjährige nicht davon ab, unbeeindruckt weiterzumachen und zum Lebensende hin noch einmal zum ganz grossen Endspurt anzusetzen. Denn kurz darauf entdeckte Amerika den zeitlos gewordenen Stil der französischen Modekönigin für sich und reetablierte ihren Weltruhm.

Coco Chanel starb 1971 im Pariser «Ritz», kurz vor der Präsentation ihrer letzten Kollektion, deren Stücke jetzt auch im Museum zu sehen sind. Beigesetzt wurde Gabrielle Chanel auf dem Friedhof Bois-de-Vaux in der Schweiz, wo sie viel Zeit in den «arbeitslosen» Jahren nach 1939 verbracht hatte und wo sie ihrem Neffen, von dem manche behaupten, es sei ihr Sohn, eine Villa gekauft hatte. Chanels Grabstele befindet sich auf ihren Wunsch nicht auf, sondern hinter dem Grab. «Ich will keinen Stein auf meinem Kopf haben», erklärte sie, «für den Fall, dass ich zurückkehren will.»

«Gabrielle Chanel. Fashion Manifesto». Victoria and Albert Museum, London. Bis 28.Februar 2024.

Passend zum Artikel

Seit Coco Chanel wird keine andere Designerin so vergöttert wie sie: Phoebe Philo hat den stillen Luxus in die Mode gebracht Die Engländerin Phoebe Philo wurde mit der Modemarke Céline für Frauen zu einer Art Hohepriesterin. Diesen September soll sie endlich ihr eigenes Label starten. Ihr Erfolg beruht auf Understatement.

Silke Wichert

5 min

Überreichtum an Mustern und strikte Regeln: Einen Kimono zu tragen, forderte die Japaner zu Exzessen heraus Kaum ein Kleidungsstück eignet sich so gut als Bildträger und Projektionsfläche wie das urjapanische Gewand aus einfachen Stoffbahnen. Die vom Victoria and Albert Museum in London übernommene Ausstellung im Museum Rietberg zeigt seine Entwicklung vom Kleid der Samurai und Kurtisanen bis zum Phantasiegewand westlicher Pop-Stars.

Philipp Meier

7 min

Befreit das Dirndl! Das beliebteste Trachtenkleid lässt sich nicht vereinnahmen Das Dirndl ist ein fester Bestandteil der jährlichen Oktoberfest-Folklore. Scheinbar ein altes Stück alpenländischer Volkstracht, hat es teilweise eine düstere jüngere Vergangenheit. Mit dem Aufstieg der Nazis, wurde die ursprünglich von kirchlichen Traditionen durchsetzte Tracht im Sinne der NS-Ideologie aufgefrischt.

Jeroen van Rooijen

5 min

Coco Chanel: Erfinderin eines selbstbewussten Frauentyps und Antisemitin (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Francesca Jacobs Ret

Last Updated:

Views: 5339

Rating: 4.8 / 5 (48 voted)

Reviews: 87% of readers found this page helpful

Author information

Name: Francesca Jacobs Ret

Birthday: 1996-12-09

Address: Apt. 141 1406 Mitch Summit, New Teganshire, UT 82655-0699

Phone: +2296092334654

Job: Technology Architect

Hobby: Snowboarding, Scouting, Foreign language learning, Dowsing, Baton twirling, Sculpting, Cabaret

Introduction: My name is Francesca Jacobs Ret, I am a innocent, super, beautiful, charming, lucky, gentle, clever person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.